Wie kann uns Storytelling bei den aktuellen Herausforderungen unterstützen?
Viele von uns haben diesen Begriff vielleicht schon einmal gehört… Im ersten Moment verbinden wir damit vielleicht Themen wie das Verpacken des eigenen Anliegens in schöne Worte oder die Aufgabe einer Führungskraft, ihr Team durch schöne Geschichte zu motivieren.
Sicherlich passen die genannten Assoziationen, aber eine Geschichte zu erzählen ist noch viel mehr als das Aneinanderreihen von Fakten und Aussagen. In Veränderungsprozessen in Unternehmen können hiermit aktuelle Muster und die ungeschriebenen Gesetze im Unternehmen beschrieben werden. Darauf aufbauend kann ich sogar dahin gehen und Storytelling nutzen, um neue Denk- und Handlungsfelder zu erarbeiten und einen umfassenden Veränderungsprozess zu begleiten. Gerade in der heutigen Zeit, in der viele von uns davon ausgehen, dass nach Corona nicht mehr genau so wie vorher im Unternehmen zusammengearbeitet werden kann. Deshalb habe ich mich mit meinem Kollegen Prof. Dr. Matthias Kussin ausgetauscht, der sich intensiver mit dem Thema beschäftigt hat.
Britta: Matthias, wie würdest du Storytelling beschreiben?
Matthias:
Mit Storytelling setze ich bestimmte Ereignisse, Erfahrungen, Informationen und Emotionen in einen bestimmten Zusammenhang und verleihe ihnen damit einen bestimmten Sinn. Wir alle machen das, um unseren eigenen Gedanken eine Form zu geben und uns anderen mitzuteilen. Und wir tragen auch die Geschichten von anderen weiter, womit wir ebenfalls etwas über uns selbst ausdrücken. Dies geschieht in unserem privaten Umfeld, aber eben auch bei der Arbeit. In Unternehmen wimmelt es nur so vor Geschichten. Sie machen einen wichtigen Teil der informalen Kommunikation aus und sind ein Teil vom kollektiven Gedächtnis der Organisation. Denken Sie an den Klatsch und Tratsch über den CEO im eigenen Haus, oder den der Konkurrenz; Geschichten über filmreife Episoden von Führungskräftetagungen oder Weihnachtsfeiern, aber auch die Mythen von Aufstieg und Fall gefeierter und dann gefeuerter so genannter Potenzialträger und nicht zuletzt Kurioses über das Zustandekommen wichtiger Entscheidungen wie Produkteinführungen oder Unternehmensübernahmen. Interessant ist, welche Stories in Unternehmen gewissermaßen viral gehen und immer wieder erzählt werden. Sie verraten viel über die Unternehmenskultur; was die Zusammenarbeit ausmacht, wie die Teams in der Organisation ticken, worauf sie stolz sind, was sie antreibt und was sie bremst.
Zugleich sind Stories natürlich auch Teil der Schauseite von Organisationen – das, was die Öffentlichkeit erfahren soll. Aber das sind dann eben oft die Hochglanzgeschichten aus der Unternehmenskommunikation – und die sind ja meistens nicht halb so spannend wie die aus der Kaffeeküche.
Britta: Kann ich Storytelling schon für mich allein erlernen und nutzen, um die Themen, die mir am Herzen liegen, besser zu adressieren?
Matthias:
Eigentlich sind wir die geborenen Geschichtenerzähler*innen und –hörer*innen, glaubt man neurowissenschaftlichen Erkenntnissen. Mit dem Geschichtenerzählen ist es allerdings nun ein bisschen wie mit dem verständlichen Reden und Schreiben – es wird uns in unserer Ausbildung systematisch ausgetrieben: vor allem an den Hochschulen. Da lernen wir deduktive und induktive Beweisführung, die Analyse möglicher Korrelationen und Kausalitäten und die systemische Verknüpfung von Fakten, Fakten und Fakten, reichlich verpackt in komplizierten Fremdwörtern. In Stories geht es aber nicht immer nur um Fakten. Stories sind viel reichhaltiger. Es geht um Möglichkeiten, Gefühle, Perspektiven, alles in einer lebendigen Sprache – also eine ganz andere Form der Aufbereitung von Informationen und Mitteilungen. Vielleicht müssen wir nicht das Storytelling lernen, aber dafür das abstrakte wissenschaftliche Argumentieren ein stückweit wieder verlernen. Zumindest für die Anlässe, in denen uns Geschichten mehr zu sagen haben.
Britta: Und wie genau kann im Rahmen von Veränderungsprojekten in Unternehmen Storytelling eingesetzt werden?
Matthias:
Storytelling eignet sich vor allem dann als Methode zur Gestaltung von Veränderungen, wenn das Thema Kultur eine Rolle spielt; wenn sich die Unternehmensidentität oder das Teamverständnis wandelt und die Zusammenarbeit eine andere werden soll.
Im ersten Schritt geht es darum, die bestehenden, charakteristischen Geschichten aus dem Team oder der ganzen Organisation aufzunehmen. Diese verraten viel über dahinterstehende Wertehaltungen, informale Regeln und Glaubenssätze – aber auch mögliche Chancen und Probleme im Veränderungsprozess. Ihre sorgfältige Analyse kann ein wichtiger Startpunkt sein. Denn über sie wird für alle ersichtlich, wo Baustellen sind und wo die größten Potenziale liegen, um Veränderungen nachhaltig zu gestalten. Im dritten Schritt geht es dann darum, auch den Veränderungsprozess selbst als künftige Geschichte zu denken, als eine Reise deren Ziel der erfolgreiche Wandel ist. Dann wird Storytelling zu Storycreating. Das Schöne daran ist, dass sich viele Reiseziele auf unterschiedlichen Wegen erreichen lassen. Mit dieser Offenheit eignet sich der Ansatz im Besonderen für partizipative Verfahren, in denen das Drehbuch für den Wandel gemeinsam geschrieben wird.
Britta: Was ist dann anders als bei „klassischer“ Herangehensweise im Change Management?
Matthias:
Geschichten erzählen oft mehr über Organisationen, Teams und ihre Mitglieder, als diese selbst von sich wissen. Sie legen Muster, ungeschriebene Regeln, Werte und Erwartungen offen, die mir in direkten Frage- und Diskussionsrunden unzugänglich bleiben. Das ist übrigens auch der Grund, warum in der qualitativen Sozialforschung das narrative Interview eine wichtige Methode darstellt – beispielsweise in der Biographieforschung, aber auch in der Organisationsanalyse. Gerade in Veränderungsprozessen kann es sich lohnen, diesen Umweg über die Geschichten zu nehmen, um zu verstehen wie der Wandel gelingen kann.
Matthias, ich danke dir für den interessanten Austausch! Ich nehme mit, dass Storytelling in Veränderungsprozessen neue Türen öffnen kann und eine spannende Methode ist, um Menschen in Unternehmen die Veränderung gestalten zu lassen.
Zum Autor und zur Autorin:
Prof. Dr. Matthias Kussin
ist diplomierter und promovierter Soziologe (Dr. phil.) sowie Energieökonom (M.Sc.). Zu seinen inhaltlichen Schwerpunkten zählen insbesondere die Themen Organisationsanalyse und -beratung, Unternehmenskommunikation und Nachhaltigkeitsmanagement. Zuvor arbeitete über sieben Jahren in verschiedenen Positionen für einen international tätigen Energieversorger (DAX 30), zuletzt im Bereich Group Corporate Affairs mit dem Schwerpunkt Corporate Responsibility. Dort verantwortete er das Nachhaltigkeitsreporting und war Ansprechpartner für Stakeholder aus dem NGO-Bereich sowie Nachhaltigkeitsinvestoren. Daneben war er als Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen wie den Universitäten Bielefeld und Luzern (CH) tätig.
Britta Hövel
ist als Key Account Managerin, Vertriebssteuerin, Projektleiterin für digitale Produkte und als Change Managerin und Teamleiterin im Transformationsprozess des B2B-Bereiches tätig. In jüngster Vergangenheit unterstützt die zertifizierte Scrum-Masterin zudem crossfunktionale Teams als agiler Coach. Ihre Schwerpunktthemen sind die Beratung von Unternehmen in Veränderungsprozessen und agiler Transformation, außerdem begleitet sie mit großer Leidenschaft als Coach ihre Klienten bei der Entfaltung ihrer individuellen Ressourcen, bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und in beruflichen Veränderungsprozessen durch Standortbestimmung und Zukunftsplanung.