Smart, agil oder gar nicht - wie setzen wir Ziele in hochvolatilen Zeiten?
Das Jahr 2020 nähert sich in Windeseile dem Ende und in vielen Organisationen ist der Planungsprozess auf der Zielgeraden. Auch Einzelpersonen – nicht nur Unternehmer*innen und Führungskräfte – beginnen langsam, über ihre Ziele für 2021 nachzudenken. Mitarbeiter*innen bereiten sich auf Jahresgespräche vor und fragen sich, ob in volatilen Zeiten wie diesen Ziele überhaupt noch sinnvoll sind. Haben wir nicht alle im Corona-Jahr 2020 gelernt, uns das Planen abzugewöhnen, um uns selbst und andere vor Enttäuschungen über verfehlte Ziele zu bewahren? In diesem Beitrag geht es um den konstruktiven Umgang mit Zielen und Plänen in Zeiten, die höchst dynamisch und volatil sind.
Sind SMARTe Ziele „out“?
Wie viele von uns habe ich – in meinem Fall während des BWL-Studiums zu Beginn dieses Jahrtausends – einmal gelernt, dass Menschen und Organisationen erfolgreich anhand von Zielen geführt werden können. „Management by objectives“ war das Gebot der Stunde. Ähm, Moment, Stunde? Diese (Selbst-)Führungstechnik wurde bereits in den 1950er Jahren von Peter Drucker formuliert. Und sie ging einher mit dem Akronym SMART, denn Ziele sollten spezifisch, messbar, aktiv beeinflussbar, relevant und terminiert beschrieben werden.
Seit den 1950er Jahren hat sich das Umfeld, in dem wir Ziele setzen, massiv verändert. Nicht erst seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie erleben wir eine deutlich dynamischere, schlechter vorhersehbare Welt, in der viele Ziele auch nicht zuletzt aufgrund der hohen Komplexität und Volatilität des Umfeldes nur kurze Zeit Bestand haben.
Ein Hauptkritikpunkt an SMARTen Zielen lautet daher: Je spezifischer Ziele gesetzt werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, sie zu verfehlen und desto weniger motivierend sind diese Ziele auf Dauer – vor allem in einem hochvolatilen Umfeld. Werfen wir z.B. einen Blick auf Umsatzziele, wie sie oft dem Vertrieb oder der Produktentwicklung gegeben werden: Definiert man sie ganz und gar SMART, so liegt es nahe, einen spezifischen Zielumsatz in Euro zu definieren, der zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einer bestimmten Kundengruppe oder einem bestimmten Produkt erzielt werden soll. Bei der Zieldefinition wird dabei oft aus der Vergangenheit extrapoliert: man legt beispielsweise frühere Umsatzsteigerungen oder Umsatzsprünge bei Neuprodukteinführungen zugrunde. Mit der tatsächlichen Umsatzentwicklung im kommenden Jahr hat das in den seltensten Fällen zu tun. Denn gerade in einem VUKA-Umfeld (volatil, unsicher, komplex, ambig) kann allerlei im Markt passieren, was die Ziele ad absurdum führt. Das haben die meisten Vertriebler im Corona-Jahr 2020 deutlich gespürt.
Verurteilen wir die SMART-Logik dennoch nicht zu schnell und vor allem nicht vollständig: denn gerade im VUCA-Umfeld geben relevante Ziele, die von den „Zielträgern“ aktiv beeinflusst werden können, Orientierung und können das im VUKA-Umfeld oft gefährdete Grundbedürfnis von uns Menschen nach Selbstwirksamkeit stützen. Dafür gilt es allerdings einiges zu beachten:
- Ziele sollten lieber relativ, als fix definiert werden, um in einem volatilen Umfeld überhaupt Bestand halten zu können: In unserem Umsatzbeispiel kann das z.B. bedeuten, statt fixen Umsatzzielen eine Umsatzentwicklung auf oder über Marktniveau zu definieren (sofern man das Marktwachstum bestimmt werden kann, z.B. aus Studien oder eigener Marktforschung).
- Ziele sollten Outcome (Ergebnisziele) und Output (Prozessziele) umfassen, d.h. in unserem Umsatzbeispiel: neben einem Umsatzziel ist es auch valide, vertriebliche Tätigkeiten zu planen, z.B. die Anzahl von Kundenkontakten im Zielkundensegment innerhalb eines bestimmten Zeitraums – denn die können und sollten auch bei einem möglichen marktbedingten Umsatzeinbruch aufrechterhalten werden.
- Ziele sollten in Bezug zu einem größeren Zielbild stehen, z.B. zur Mission oder Vision der jeweiligen Organisation. Dies gibt Orientierung, ist ein gutes Prüfkriterium für die Ziel-Relevanz und sichert oft auch das längerfristige Aufrechterhalten eines Ziels auch im VUKA-Umfeld.
- Der Zieldialog ist mindestens so wichtig, wie das Ziel selbst (und das wusste übrigens auch schon Peter Drucker): Diejenigen, die die Zielerreichung beeinflussen, müssen die Ziele nicht nur verstehen, sondern auch äußern, was sie zur Zielerreichung benötigen, z.B. Kompetenzen oder Kapazitäten, und entsprechend Zugang dazu erhalten
Halten wir also fest: Ziele sind auch im VUKA-Kontext sinnvoll, aber sie brauchen eine Weiterentwicklung. Eine geeignete Methodik hat seit einigen Jahren unter dem Akronym „OKR“ in modernen, agil ausgerichteten Organisationen Einzug gehalten.
OKRs als agile Ziele?
Das Akronym „OKR“ steht für „Objectives and Key Results” und wurde bereits im Jahr 1968 als Weiterentwicklung von MbO beim amerikanischen Halbleiterhersteller Intel als Zielsystem entwickelt. Kein Wunder, denn die Halbleiterindustrie ist seit ihrem Entstehen eine hochdynamische Industrie mit äußerst kurzen Entwicklungszyklen und ständigen technologischen Quantensprüngen. Einem breiteren Publikum wurde das OKR-Framework in diesem Jahrtausend durch John Doerr bekannt. Doerr, der Intel gut kannte, etablierte das OKR-Framework als Venture Capitalist bei Google und baute OKR als Steuerungsmechanismus zu einem der wesentlichen Erfolgsfaktoren von Google (inzwischen Alphabet).
Was macht das OKR-Framework besonders? Bei OKRs geht es nicht nur um Ziele, sondern vielmehr um die Verbindung von Strategie und Ergebnissen, hierarchie- und funktionsübergreifend. Organisationen oder Einheiten, die mit dem OKR-Framework arbeiten, leiten aus Vision, Mission und Werten eine Strategie ab und konkretisieren diese Strategie mithilfe von Zielen (Objectives), die wiederum in messbare Ergebnisse (Key Results) heruntergebrochen werden (vgl. Abbildung Strategiepyramide).
Abbildung: Strategiepyramide: Von der Vision zu OKRs
Eine erste Besonderheit der OKRs ist also ihre Verknüpfung mit übergeordneten Unternehmenszielen.
Eine zweite Besonderheit liegt darin, dass OKRs für kürzere Zeiträume, typischerweise 3 Monate, definiert werden. Dies bietet gerade in volatileren Umfeldern den Vorteil, Ziele immer wieder auf Umweltentwicklungen anpassen und ausrichten zu können und auf Zielverfehlungen genauso wie auf Ziel(über)erreichung unmittelbar Bezug nehmen zu können. Für diesen 3-Monats-Zyklus beschreiben „Objectives“ strategisch relevante Ergebnisse (Outcomes, s.o.), die in bis zu drei messbare Key Results heruntergebrochen werden. Um zu vermeiden, dass die Key Results „To-Do-Listen in neuem Gewand“ werden, werden auch diese nicht nur als Prozess-Ziele (Output), sondern auch als spezifische, kurzfristig erreichbare Ergebnis-Ziele (Outcome) beschreiben.
Übersetzen wir dies in unser Umsatzziel von oben, könnte das z.B. folgendes bedeuten:
- Das Objective wird anspruchsvoll und visionär beschrieben, z.B. „Marktposition im Segment XY ausbauen“
- Als Key Results werden dazu drei Messwerte für das Quartal herangezogen, z.B.
- Umsatzanteil Produkt A um 10% im Vergleich zum letzten Jahr steigern
- Innovatives Neuprodukt B bei 10 Kunden persönlich vorstellen
- Kundenzufriedenheit (NPS) um 10% zum letzten Quartal verbessern
Diese Key Results werden von den Beteiligten selbst definiert und transparent für alle Beteiligten kontinuierlich gemessen und dargestellt. Wie genau diese Key Results erreicht werden, entscheiden diejenigen, die das OKR bearbeiten, ebenfalls selbst und kommunizieren darüber transparent im OKR-Zyklus.
Der kontinuierliche OKR-Zyklus stellt die dritte Besonderheit des OKR-Frameworks dar (vgl. Abbildung). Er ähnelt anderen agilen Vorgehensweisen darin, dass es sich um einen iterativen Prozess handelt, der die regelmäßige Überprüfung und Anpassung von Zielen ermöglicht.
Abbildung: OKR-Zyklus
Der OKR Zyklus enthält vier Elemente:
- Am Anfang jedes dreimonatigen OKR-Zyklus steht ein Planungs-Meeting, in dem die Objectives auf ihren Bestand fürs nächste Quartal überprüft und ggf. weiterentwickelt werden. Dementsprechend werden die zugehörigen Key Results überarbeitet und – wichtig – für alle Beteiligten transparent veröffentlicht, z.B. auf einem physischen oder digitalen Whiteboard, einem gemeinsamen Plaket oder in einer geteilten Datei.
Wichtig dabei: Ein solches Planungsmeeting braucht Zeit, damit die Ziele von allen gut verstanden werden und Key Results entstehen, die echte Ergebnisse beschreiben, statt einer To-Do-Liste zu entsprechen. Gute Planungs-Meetings dürfen gern einen ganzen Tag in Anspruch nehmen. Wer OKRs gerade erst einführt, braucht länger. - Während des dreimonatigen OKR-Zyklus werden wöchentlich Ziele überprüft (OKR Weekly); hier prüft das Team in kurzen (!) Meetings die Zielerreichung anhand aktueller Messwerte zu den Key Results. Man tauscht sich zu möglichen Hürden aus, die genommen werden müssen und bespricht mögliche Taktiken zur Zielerreichung, ändert aber nicht die OKRs als solche.
- Die OKR Reviews stehen am Ende des dreimonatigen OKR-Zyklus. Hier werden die OKRs abschließend beurteilt: Inwiefern konnten die Key Results erreicht werden? Wie hilfreich waren sie zur Erreichung der Objectives wirklich? Auch ein solches Review-Meeting sollte gut und gerne einen halben Tag dauern, denn es liefert wichtige Erkenntnisse für die nächste Planungsperiode.
- Die OKR Retrospektiven dienen dazu, über das „wie“ der Zielerreichung zu sprechen: Wie gut hat die Kommunikation und Zusammenarbeit in der abgelaufenen Periode funktioniert? Was könnte verbessert werden? Hierbei hilft es, gemeinsam einige wenige (maximal 3) Themen zu priorisieren und dafür konkrete Maßnahmen abzuleiten, die man in der nächsten OKR-Periode verprobt. Eine gute Retrospektive braucht mindestens drei Stunden Team-Zeit und darf sich unmittelbar an den Review anschließen.
Wer mehr über das OKR-Framework lernen möchte, dem legen wir unseren nächsten Methodentag ans Herz. Für Fortgeschrittene teilen wir außerdem in einem unserer nächsten Beiträge die Erkenntnisse und Empfehlungen unserer Kunden, die wir bei der OKR-Einführung in ihren Organisationen begleitet haben.
Was bedeutet all das in Bezug auf Ziele für 2021?
Nicht allein aufgrund der Corona-Pandemie stellen viele von uns gerade die Frage danach, wie viel Mühe und Methodik ins Thema „Ziele“ für 2021 einfließen sollte – oder ob wir uns das Zielesetzen und Planen nicht lieber ganz abgewöhnen.
Als Transformations-Lotsen gehen wir wie folgt damit um:
- Den meisten Menschen hilft auch in hoch volatilen VUKA-Zeiten eine Vision als Zielbild, auf das sie ihr Wirken ausrichten. Unser bewährtes Workshop-Format der „Regnose“ (vgl. frühere Blogartikel) kann bei der Formulierung einer solchen Vision für Individuen, Teams und ganze Organisationen einen wertvollen Beitrag leisten.
- Um sich selbst, das eigene Team oder die eigene Organisation auf ein Zielbild hin auszurichten, haben wir gute Erfahrungen mit dem OKR-Framework gemacht. Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass diejenigen, die zur Zieldefinition maßgeblich beitragen, bereit sind, einen (Team-)Dialog über Ziele zu führen, Ziele anzupassen und sich bisweilen auch von Zielen zu lösen. Wenn das nicht der Fall ist, lassen Sie ein komplexes Framework wie OKR lieber in der Schublade und beschäftigen Sie sich zunächst mit dem nötigen „Mindset“ für agile Arbeitsweisen (Informationen zur Weiterbildung: Agile Führung – Mindset in der agilen Transformation).
Wer Lust bekommen hat, sich mit dem Thema OKR und agile Transformation intensiv zu beschäftigen, der kann dies übrigens im Rahmen unserer Weiterbildung zum Agile Master und Kulturgestalter, die im März 2021 startet – je nach Pandemie-Status online oder in Präsenz bei uns in Münster (Westfalen).
Viel Spaß beim Ziele setzen und erreichen wünschen Ihnen
Dr. Britta Müller und das Team der Coaching Gesellschaft
Dr. Britta Müller
ist Organisationsberaterin, zertifizierter Coach und New Work-Lotsin. Seit 2004 begleitet die promovierte Betriebswirtin Top-Executive-Teams in internationalen Konzernen und mittelständischen Strukturen bei der Entwicklung und Umsetzung strategischer Projekte. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind die Gestaltung von Transformationsprozessen auf Unternehmens- und Funktionsebene, die Entwicklung wirksamer Strukturen für organisationale Ambidextrie sowie als New Work-Lotsin die Begleitung von Organisationen bei der Einführung und Etablierung neuer, wirksamer Arbeitsweisen.