Wo stehst du gerade?
Vergangenen Herbst lernte ich Oliver Kirchhof (OK) im Düsseldorfer Rontonda-Club kennen. Er moderierte die Veranstaltung „Agilität und Achtsamkeit“, womit die zwei wesentlichen Leuchttürme seiner Arbeit auch direkt benannt sind. Seither schätze ich (Stephanie Ekrod, SE) den Austausch mit ihm vor allem als ausgesprochen neugierigen, experimentierfreudigen und auch mutigen Out-of-the-Box-Denker. Ob als Organisationsentwicklungsleiter bei Obi oder Teilnehmer eines 14-tägigen Stille-Retreats – Oliver schöpft aus einer tiefen Bandbreite unterschiedlichster Erfahrungen. Heute interessiert mich vor allem seine Perspektive als Unternehmensentwickler und Coach auf die Frage: Wo stehen wir jetzt gerade? Für eine „Augenblicks-Verortung“ von Gesellschaft, Führung und auch uns selbst nutzen wir die vielfach bekannte Changekurve.
SE: Oliver, bevor wir vertieft in unsere heutige Frage einsteigen, lass mich doch einmal wissen, wie du agile Führung – schließlich eines deiner Kernthemen – definierst.
OK: Dabei geht es für mich vor allem um die Rolle der coachenden Führungskraft und ihre Aufgabe, an der Seitenlinie des Teams zu stehen. Sprich: Sich nicht im Detail darum zu kümmern, wie das Team zu Ergebnissen kommt. Vielmehr geht es darum das Team zu enabeln, wenn es vor Herausforderungen steht. Die Bereitschaft zu fördern Risiken einzugehen, zu experimentieren, in diesem Zusammenhang auch Fehler zu machen, zu lernen und sich als Team ständig weiter zu entwickeln.
Das entscheidende Schmiermittel ist hierbei Vertrauen. Wer heute noch in dem tayloristischem Menschenbild verhaftet ist und denkt, dass Menschen von Natur aus faul sind und kontrolliert werden müssen der hat damit natürlich ein Problem.
Einfach so ins Vertrauen zu wechseln, ist allerdings schlichtweg nicht möglich. Dafür muss ich neue Erfahrungen machen. Hier hat uns die Lock-down Zeit einen Dienst erwiesen.
Es war jetzt eine Zeit lang alternativlos, dass die Menschen im Homeoffice waren und viele Führungskräfte haben damit ganz neue Erfahrungen gemacht. Da die meisten Menschen ihren Job sehr engagiert von zu Hause fortgesetzt haben, waren das vor allem gute. So gab es vielerorts regelrecht einen Vertrauensschub in Richtung Kontrollabgabe.
SE: Fokus unseres Gespräches ist „Führung inZeitenvonCorona“. Martin Permantiert hatte zu Beginn des Lock Downs das Coronavirus sehr einprägsam in die allseits bekannte Changekurve eingeordnet. In welcher Phase befindet sich denn unsere Gesellschaft zurzeit aus deiner Sicht?
Hier die vielzitierte Changekurve. In welchem Stadium des Changes verortest Du zurzeit unsere Gesellschaft? Dein Arbeitsumfeld? Oder auch Dich selbst? Wir freuen uns darüber zu hören!
OK: Obwohl wir schon seit „Die Grenzen des Wachtsums“ des Club of Rome wissen, dass wir langfristig nachhaltiger wirtschaften müssen, wird das Potential von Corona in dieser Hinsicht in der breiten Masse nicht gesehen. Dass 90% der Airlines pleite gehen und die Tourismusbranche runtergefahren wird, verbinden viele vor allem mit dem Verlust von Arbeitsplätzen und nicht mit der Chance für ein Umdenken, weg von der Konsumsteigerung. Das ist natürlich auch verständlich.
Wir sehen also eher die Unannehmlichkeiten des Wandels und versuchen ihn zu vermeiden. Die Möglichkeiten, die daraus erwachsen, werden zurzeit in der Breite noch nicht besprochen.
Dass neue Arbeitsplätze und Branchen entstehen werden, beziehungsweise dass an vielen Stellen auch Arbeitskräfte fehlen– wie offensichtlich in der Pflege – wird nicht gesehen. Die Menschen wollen wieder zum Status quo zurück. Für eine breitere Debatte über grundlegendere Veränderungen, wie das bedingungslose Grundeinkommen, „bräuchten“ wir aber wahrscheinlich noch weitere Krisen. So komisch das auch klingen mag. Aber der Mensch ist in vielen Bereichen ein Gewohnheitstier und lässt alt Bekanntes, auch wenn es nachweißlich schädlich ist, nur schwer los und lernt um.
SE: Und was bedeutet das für Führung? Wo in der Kurve verortest du das, was du überwiegend von Führungskräften gerade wahrnimmst?
OK: Da habe ich vielleicht ein eher verzehrtes Bild. In den letzten Wochen bin ich im beruflichen Kontext vor allem mit Menschen durch mein Online-Training „Zusammenarbeit in Zeiten von Corona“ in Kontakt gekommen. Das war ein freiwilliges Reflexionsformat für Führungskräfte und Mitarbeiter, die sich in wöchentlichen Nuggets je eine Stunde proaktiv mit der Situation auseinandersetzen wollten. Damit war es gerade ihr Anliege die Chancen in der Krise zu entdecken.
In diesem Format habe ich jeweils Impulse für den Umgang mit den neuen Arbeitsbedingungen gegeben, die wir im Anschluss diskutiert haben. Inhalte waren zum Beispiel virtuelle Meetings, Arbeitsorganisation im Homeoffice, Nähe und Verbundenheit im Remote-Modus, aber darüber hinaus auch Stressreduktion, Achtsamkeit oder auch persönliche Reflexion wie zum Beispiel die ganz persönliche Changekurve.
Es war deutlich bemerkbar, wie erleichternd es für die Menschen war, sich persönlich zu verorten und mit anderen darüber auszutauschen.
Zu hören, dass es anderen ähnlich geht. Dass es ganz natürlich ist, mal im Tal der Tränen zu sitzen. Dass wir Zeit brauchen, um krasse Veränderungen überhaupt emotional verarbeiten zu können. Darüber nachzudenken ist für viele nicht selbstverständlich, aber sehr erhellend und erleichternd.
Doch dieses Angebot haben definitiv die Neugierigen und Offenen wahrgenommen und nicht diejenigen, die lieber weitermachen würden wie bisher.
SE: Interessant. Ich habe mich übrigens auch einmal auf der Kurve verortet. Dabei ist mir aufgefallen, dass ein außenstehender Betrachter wahrscheinlich keine großen Veränderungen in meinem Leben erkennen könnte – ich innerlich hingegen schon. Mir ist jetzt erst bewusst geworden, mit wie vielen Veränderungen ich momentan experimentiere und bin sehr gespannt, was sich wohl als „New Normal“ für mich etablieren wird. Das war eine spannende Erkenntnis.
Oliver, du hast das Thema Achtsamkeit angesprochen. Das verbindest du ohnehin gerne mit agiler Führung, auch wenn das nicht offensichtlich erscheinen muss. Wieso ist es das für dich?
OK: Agile Führung hat viel damit zu tun, Emotionen bei der Arbeit nicht nur zuzulassen, sondern sie auch haben zu wollen. Wir müssen in unserer Vuka-Welt viel schneller lernen können, als das bislang der Fall war. Deshalb ist die regelmäßige Team-Retrospektive ein wichtiges agiles Tool: Ein Meeting, in dem wir unsere Zusammenarbeit reflektieren, um sie immer weiter zu verbessern.
Hierbei muss ich mich erinnern können, worüber ich mich gefreut habe, um zu wissen, was gut für mich funktioniert hat. Genauso muss ich mich erinnern können, wo ich Angst, Wut oder Traurigkeit empfunden habe, wo Sand im Getriebe war. Immer alles wegdrücken, nach dem Motto „stell dich nicht so an“, lässt das Team nicht lernen. Je spezifischer ich Gefühle wahrnehmen und benennen kann, desto präziser kann ich sie für den Gruppenprozess und damit auch für die Verbesserung der Ergebnisse zur Verfügung stellen.
Emotionen sind einfach die Indikatoren für schnelle Lernpotentiale. Positive wie negative.
Bislang gilt das Sprechen über Gefühle schnell als unprofessionell. Das müssen wir dringend „reframen“. Und nicht nur das. Vielfach müssen wir die erhöhte Wahrnehmungsbereitschaft auch erst einmal wieder erlernen. Achtsamkeitspraktiken zahlen hierauf sehr genau ein. Daher ist die Verbindung dieser beiden Themen für mich nicht nur naheliegend, sondern geradezu zwangsläufig.
SE: Oliver, ganz lieben Dank für dieses interessante und spannende Gespräch. Ich gehe jetzt mal forschen, wo auf der Veränderungskurve unsere Kunden in Bezug auf diesen Aspekt wohl stehen. Emotionen als Lernindikator gut wahrnehmbar und besprechbar zu machen – es könnte sein, dass da bei vielen die Phase des Ausprobierens noch nicht erreicht ist.
Zu den Autoren:
OLIVER KIRCHHOF ist seit über 20 Jahren als Management Berater, Coach und Trainer aktiv. Er führt Trainings, Projekte und Coachings zu agilem Arbeiten mit Scrum, Change Management, Führungskräfteentwicklung und Achtsamkeit in Unternehmen durch. Er ist immer neugierig Neues kennen zu lernen und auszuprobieren und lebt lebenslanges Lernen. Außerdem moderiert Oliver Kirchhof Großveranstaltungen und Diskussionsrunden und ist Key Note Speaker zu den Themen Fehlerkultur, Digitalisierung und Achtsamkeit.
Foto: Nina Schöner
STEPHANIE EKROD ist Gründerin, Inhaberin und CCO (Chief Culture Officer) der Coaching Gesellschaft, Senior Executive Coach und Coach-Ausbilderin. Bereits seit 2009 begleitet sie als Coach Top Management, Führungskräfte und High-Potentials in Konzernstrukturen sowie in mittelständischen Unternehmen. Als Expertin für das agile Führungs-Mindset steht sie Führungspionieren als Sparringspartnerin und Beraterin in Transformationsprozessen zur Seite und hält Key Notes zu den Themen „Wirksame Führung in der VUKA-Welt“, „Agiles Mindset“ und „Gender Diversity“