Was sind leistungsfähige Governanceformen für Krisenzeiten?
Derzeit spüren wir alle, wie sich durch die Ausbreitung des Coronavirus unsere Lebensgewohnheiten verändern. Dinge, die gestern noch wie selbstverständlich möglich waren, sind es heute nicht mehr. Corona führt uns vor Augen, wie verletzlich doch unsere gesellschaftliche Ordnung ist und auf welch fragilem Fundament unser allgemeiner Lebensstandard fußt.
Katastrophen im Kontext von Hochrisikotechnologie – eine Analogie
Mir kommt bei diesen Geschehnissen ein Buch des amerikanischen Organisationsforschers Charles Perrow mit dem Titel „Normal Accidents: Living with High-Risk Technologies“ aus dem Jahr 1984 in den Sinn. Perrow zeigt darin anhand emprischer Studien: Katastrophale Unfälle sind in Kontexten von Hochrisikotechnologie nahezu unvermeidlich. Verantwortlich für Katastrophen in Kernkraftwerken, der petrochemischen Industrie oder auch der Raumfahrt ist dabei nicht das Versagen einzelner Menschen. Es ist die Architektur dieser technischen Systeme, die durch nichtlineare Abläufe gekennzeichnet ist; zudem sind ihre Elemente fest gekoppelt und räumlich eng vernetzt. Diese Kombination von Eigenschaften kann sich in kritischen Situationen als katastrophal erweisen. Denn derartige Systeme verzeihen keine Fehler. Ein unvorhergesehenes Problem in einem Element ist selten isolierbar. Ein Grund dafür ist, dass die Elemente des Systems eng gekoppelt und räumlich nah beieinander sind. Es ist daher in einem solch komplexen Kontext schier unmöglich, einen Fehler zu korrigieren oder wenigstens seine Folgen vorherzusagen. Die unmittelbaren und nichtlinearen Wechselwirkungen zwischen den Elementen stehen diesem Unterfangen im Weg.
Kopplung und Entkopplung bringen unsere Systeme aus dem Gleichgewicht
Nun, streng genommen hinkt diese Analogie. Denn unsere Gesellschaft ist eben kein sozio-technisches System und Corona in dem Sinne auch kein Unfall. Aber die Ähnlichkeiten der Wirkungszusammenhänge und ihrer Ursachen sind für mich schon verblüffend. Wir erleben drastische Kopplungseffekte einer sich global ausbreitenden Krise im Gesundheitssystem auf das Weltfinanzsystem, auf die Realwirtschaft, das Bildungs- und Erziehungssystem, den Sport sowie andere Bereiche der Gesellschaft. Und gleichzeitig ebenso drastische Entkopplungseffekte: durch politisch verordnete Entkopplung zwischen Menschen bzw. ihren physischen Systemen („social distancing“) und durch ungeplante Entkopplung globaler Werschöpfungsketten. All dies erreicht uns weltweit in Echtzeit, in Form einer unerschöpflichen Masse an Daten, Informationen, Bilder und Hintergrundinformationen – und doch haben wir den Folgen von Kopplung und Entkopplung innerhalb und zwischen psychischen Systemen und gesellschaftlichen Funktionssystemen wenig entgegenzusetzen. Zwar lassen sich Regionen abriegeln, Schulen schließen, Rettungsprogramme für Unternehmen schnüren und Fake-News in Social-Media-Kanälen unter Strafe stellen. Aber weder verfügen die Politik noch andere Steuerungsinstitutionen über wirkungsvolle Stoppmechanismen, um das Überspringen der Krise von einem gesellschaftlichen Bereich auf einen anderen zielgenau abzubremsen oder die eng gekoppelten Produktionsprozesse aufrechtzuerhalten; geschweige denn Vorhersagen über die Wirkung von Maßnahmen zu machen.
In der Sprache der allgemeinen Systemtheorie ließe sich das Problem wie folgt formulieren: Woran es fehlt, sind Mechanismen der Interdependenzunterbrechung zwischen den Systemen. Damit verbunden ist ein Problem, das ebenfalls aus der Kybernetik bekannt ist: Sind die Systeme einmal aus dem Gleichgewicht, ist es nahezu unmöglich, die Ordnung der Vor-Krisenzeit wiederherzustellen.
Ist jetzt die Zeit für die Systemfrage?
Was für Optionen gibt es aber nun, um diesen Herausforderungen jetzt und künftig zu begegnen? Diese Frage berührt zum einen den Aspekt des politischen Krisenmanagements: Schon jetzt wird diskutiert, ob zentral organisierte und dezentral organisierte Governancestrukturen leistungsfähiger sind, um derartigen Krisen zu begegnen. Schnell ist dabei auch der „Systemvergleich“ zwischen einem autoritären China und unseren eher förderalen Strukturen gezogen. Auch Charles Perrow bearbeitete die Frage nach der Überlegenheit von zentralen und dezentralen Entscheidungsprozessen in seinen Analysen – und kam zu dem Schluss, dass es darauf keine eindeutige Antwort gibt. Die Stärke hierarchischer Entscheidungsprozesse besteht darin, dass sie in Krisenzeiten Regelungen schnell einheitlich top-down durchsetzen können. Dezentrale Systeme haben hingegen den Vorteil, dass sie das Risiko von Fehlereinschätzungen durch eine Entscheidungsinstanz reduzieren und zudem flexibler auf Situationen reagieren können.
Die Frage nach den Optionen berührt aber über die Fragen von Zentralität und Dezentralität hinaus auch den Aspekt der grundsätzlichen gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen: Nicht nur jetzt, sondern bereits seit einiger Zeit vor der Corona Krise werden Stimmen lauter, die eine andere Lösung auf diese und andere Probleme sehen. Sie wollen global vernetzte Gesellschaftsbereiche wie Wirtschaft, Wissenschaft oder auch Medien wieder in das Korsett des Nationalstaats zurückdrängen. Dabei verfolgen sie gleichzeitig das Ziel, Kontrolle zurückzugewinnen.
Eine solche Option erscheint für viele intuitiv einleuchtend. Sie ist aber nicht ohne Risiko. Zum einen wäre diese Rekonfiguration nur unter Inkaufnahme massiver Komplexitätsverluste der global ausdifferenzierten Funktionssysteme wie der Realökonomie oder auch dem Finanzsystem möglich. Sie dürfte – eher volkswirtschaftlich formuliert – mit massiven gesellschaftlichen Wohlstandsverlusten zu bezahlen sein. Zum zweiten würde dies zu Erwartungen an nationalstaatliche Entscheidungsinstanzen führen, mit denen diese aufgrund von mangelnder Expertise und einem normativen, hierarchisch organisierten Operationsmodus in der gegenwärtigen Wissensgesellschaft gar nicht Schritt halten könnten. Dahinter verbirgt sich die Gefahr einer massiven Überlastung der Politik, auf die auch der Governance-Theoretiker Helmut Willke immer wieder hinweist.
Flexible, intelligente Formen des Zusammenlebens und -arbeitens als Antwort
Mir erscheint daher das Nachdenken über einen anderen Ansatz vielversprechender, dessen Grundannahmen ebenfalls auf kybernetischen Überlegungen fußen: den Aufbau und die Nutzung kognitiver, intelligenter Kapazitäten in den Systemen. Wie kann eine Wirtschaft weiterlaufen, wenn bisherige Routineprozesse nicht mehr möglich sind? Wie schaffen wir es, kurzfristig in den Arbeits- und Lebenskontexten Alternativen zu entwickeln, über die ‚der Betrieb am Laufen gehalten wird‘? Dort auf viel abstrakterer Ebene wurden Fragen zur Selbstanpassung von Systemen an Umweltzustände von Kybernetikern wie dem Psychiater und Biochemiker Ross Ashby Mitte des vergangenen Jahrhunderts unter dem Begriff der Ultrastabilität diskutiert.
Und tatsächlich dürften schon jetzt in der Krise diese kognitiven Elemente der Selbstanpassung zur Stabilisierung von Leistungen nicht zu unterschätzen sein auch bei uns an der Hochschule erlebe ich dies: Innerhalb von wenigen Tagen haben wir bereits große Teile unseres Lehrbetriebs auf digitale Formate umgestellt. Hochschulleitung und Politik eröffnen uns dafür Spielräume, geben aber nur einen sehr groben Rahmen vor. Der eigentliche Anpassungsprozess wird von vielen einzelnen Hochschullehrer*innen netzwerkförmig vorangetrieben. Es finden rege Diskussionen untereinander statt, welche didaktischen Methoden bei Videokonferenzen am besten funktionieren und in welchen Bereichen vielleicht auch ein ganz klasssiches Medium, das Lehrbuch, eine bessere Vermittlungsform darstellen kann. Wir tauschen uns darüber aus, welche IT-Programme für welchen Einsatz in der Lehre am besten geeignet sind. Und wir lernen gerade auch sehr viel darüber, was unsere Studierenden von uns erwarten – und was wir von ihnen erwarten können.
Wenn in den Medien nun die Meldungen über die Top-Down-Entscheidungen der Politik dominieren, sollte zugleich darauf geschaut werden: Es sind die flexiblen, kognitiven Anpassungsprozesse in Wissenschaft, Wirtschaft und anderen Teilen der Gesellschaft, die Umstellung von Präsenz auf Online-Meetings, das Nachdenken über alternativen Vertriebswege zum Kunden bis hin zu neuen digitalen Kulturformaten, über die sich nun in zumeist adhocratischen Entscheidungsprozessen neue Spielräume für neue Gleichgewichtszustände in den Systemen erschließen. Das ist vielleicht eine der wenigen positiven Nachrichten in der Krise: dass sich neue flexible, intelligente Formen des Zusammenlebens und -arbeitens herauskristallisieren, die uns neue Spielräume der Adaptivität ermöglichen. Damit Katastrophen wie diese künftig eben nicht zu einer neuen Normalität werden.
Autor: Prof. Dr. Matthias Kussin