Neurowissenschaftlerin Friederike Fabritius wird zur Aktivistin für datenbasierte Entscheidungen
Für unseren heutigen Beitrag haben wir die Neurowissenschaftlerin Friederike Fabritius interviewt. Die Speakerin und Autorin (u.a. „The Leading Brain“) inspiriert Führungskräfte weltweit, indem sie Erkenntnisse aus der Gehirnforschung in hilfreiche Ansätze für erfolgreiche Führung übersetzt. Das Interview mit Friederike Fabritius (im Folgenden: FF) führte Britta Müller (BM).
BM: Frau Fabritius, wie hat Corona Ihren Alltag verändert?
FF: Ich arbeite derzeit, wie viele, aus dem Home Office – allerdings mit fünf Kindern, die Aufmerksamkeit brauchen. Parallel stelle ich mein Business auf virtuelle Formate um. Das stellt auch mich als bisher nicht so Technikaffine vor einige Herausforderungen. Gleichzeitig werde ich gerade zur Aktivistin.
BM: Das klingt spannend! – was meinen Sie damit?
FF: Ich nehme wahr, dass viele Menschen derzeit Angst haben. Wer Angst hat, kann nicht mehr klar denken. Das ist ein perfekter Boden für Populismus, Diktaturen und die Begrenzung von Freiheitsrechten. Das besorgt mich und dagegen möchte ich eine alternative Sichtweise, nämlich die Sicht auf Fakten stellen.
BM: Was besorgt sie denn so im aktuellen Umgang mit Covid-19 und welche Fakten sind zusätzlich wichtig?
FF: Viele Menschen suchen derzeit in ihrer großen Sorge nach Führung. Relativ prüfungslos wird alles in Kauf genommen, was Regierungen veranlassen. Formulierungen wie „Wir sind im Krieg“ oder „der Lock-Down ist alternativlos“ werden einfach akzeptiert. Das ist auch erst mal nicht überraschend, denn wenn Menschen im Bedrohungsmodus sind, dann wird in ihrem Gehirn das Schmerzzentrum aktiviert und die Bedrohung Corona fühlt sich an wie körperliche Schmerzen, die aufhören sollen. In diesem Zustand sind Menschen bereit, alles in Kauf zu nehmen. Hashtag-Mantras wie stay-at-home oder flatten-the-curve geben einem dann das Gefühl, selbst zur Schmerzlinderung beitragen zu können. Solche Mantras beruhen aber leider auf einer sehr unklaren Faktenlage.
Ich bin keine Anhängerin von Verschwörungstheorien und nehme Covid-19 als tödlichen Virus ernst. Wir wissen jedoch noch nicht zuverlässig, wie hoch die Mortalitätsraten von Covid-19 wirklich sind. Es gibt sehr starke Schwankungen in den bisher gemessenen Daten. Auf Basis einer so unklaren Faktenlage soweit in das Leben der Menschen einzugreifen, ist nur möglich, weil so viele Menschen von Angst erfüllt sind. In einer Demokratie finde ich es aber wichtig, dass wir unsere Politiker hinterfragen, wenn es um so weitreichende Eingriffe in unser Leben und unsere Gesellschaft geht.
BM: Die ZEIT schlug kürzlich den Virologen Christian Drosten wegen seiner nüchternen wissenschaftlichen Lagebetrachtung als Kanzler vor. Was wäre anders, wenn die Neurowissenschaftlerin Friederike Fabritius Kanzlerin wäre?
FF: (Lacht) Ich glaube, ich würde im Wesentlichen zwei Sachen angehen:
Zum einen würde ich an die Medien appellieren. Die berichten fast nur noch über Corona, alle anderen Themen werden ausgeblendet. Das führt dazu, dass wir nur noch den Virus im Fokus haben. Alle anderen Risiken sind gerade wie ausgeblendet: Klimawandel, Gender Disequality, Krieg und Hunger gibt es immer noch. Ich würde entschlossen an die Medien appellieren für eine viel mehr vergleichende Berichterstattung: Wer heute über die Covid-Todesfälle berichtet, sollte gleichzeitig über Grippe-Fälle berichten. Daran sterben auch viele Menschen, aber es wird nicht darüber berichtet, weil es nicht neu oder unbekannt ist.
Zum anderen würde ich als Politikerin nicht ausschließlich auf die Virologen hören. Die Virologen spielen jetzt eine wichtige Rolle, aber: Ich kann nicht auf Virologie basierend ein ganzes Land regieren. Wir leben in einem hochkomplexen globalen wirtschaftlichen und politischen System. Die Auswirkungen der aktuellen Handlungen, z.B. der Shut-down, haben deutliche Auswirkungen auf dieses System. Ich würde daher ein interdisziplinäres Expertenteam zusammenstellen und mich nicht nur auf die kurzfristige Eindämmung des Virus konzentrieren, sondern versuchen auch die langfristigen Konsequenzen zu berücksichtigen.
Was mir ganz wichtig ist: es geht mir nicht darum, die Wirtschaft über Menschenleben zu stellen. Im Gegenteil: ich finde, dass wirtschaftliches Wohlergehen dem gesellschaftlichen und gesundheitlichen Wohlbefinden dient. Wir wissen zum Beispiel, dass bei jeder Rezession die Selbstmordraten steigen. Wir wissen, dass momentan Kinder und Frauen zu Hause misshandelt werden. Wir wissen, das psychische Erkrankungen zunehmen – damit komme ich als Psychologin zurzeit täglich in Kontakt. Und auch all das führt zu Todesfällen.
Wir müssen auch die langfristigen Folgen der drohenden Rezession in den Blick nehmen: Wenn wir zukünftig im Gesundheitssystem sparen müssen, dann wird das auch Auswirkungen auf die Behandlung von Diabetes, Bluthochdruck, Herzkreislauferkrankungen und Krebs haben. In der letzten Rezession ist die Anzahl der Krebstoten gestiegen, weil die Krankenkassen und -häuser sparen mussten und kostspielige Therapien nicht mehr finanziert wurden.
Vor diesem Hintergrund würde ich die kurzfristige Perspektive um die langfristigen Auswirkungen der aktuellen Maßnahmen ergänzen. Dabei geht es mir um „Leben gegen Leben“, nicht um „Leben gegen Geld“. In der aktuellen Debatte wird ausgeblendet, dass auch der Shutdown Menschenleben kostet. Z.B. sterben derzeit weltweit 18 Millionen Menschen an Herzkreislaufproblemen. Wenn die ganze Menschheit sich jetzt im Lockdown weniger bewegt und viele vielleicht sogar zur Stressbewältigung mehr trinken oder rauchen, dann werden diese Zahlen merklich steigen. Wenn wir jetzt aus Angst vor dem Virus weniger Krebs-Screenings durchführen, dann wird das zukünftig Auswirkungen auf die Anzahl der Krebstoten haben.
BM: Ich höre in Ihren Worten den Wunsch nach Multiperspektivität
FF: Ja, ich plädiere für holistisches Denken. Aus neuropsychologischer Sicht müssen wir bedenken: Wenn Menschen in Angst sind, wird ihr Blick ganz eng, wir bekommen einen Tunnelblick und sehen nur noch das Virus und seine Bekämpfung. Dabei blendet man aber lang- und mittelfristige Konsequenzen aus und es gibt scheinbar nur noch eine Wahrheit. Genau das war leider auch der Beginn vieler totalitärer Systeme.
Wir müssen raus aus diesem einseitigen Angstdenken. Dafür spielen Medien und Politiker eine große Rolle, indem sie sachlicher und datenbasiert diskutieren und weniger Angst schüren. Wir dürfen den Blick für das Große, Ganze nicht verlieren.
BM: Wagen Sie für uns eine Regnose: Blicken Sie aus der Zukunft auf das, was wir aus Corona gelernt haben werden. Was sehen sie?
FF: Puh… Eine schwierige Frage! Ich persönlich hoffe, dass wir lernen werden, statt in Panik und Angst zukünftig rationaler zu reagieren. Wir werden lernen, auf Basis von Daten sehr genau abwägen, was wir tun, anstatt voreilig Maßnahmen zu ergreifen, die vielleicht langfristig nicht sinnvoll sind.
Ich habe den Eindruck, dass wir z.B. von den Isländern lernen können: Die Isländer testen sehr großflächig, zufallsbasiert einen Teil ihrer Bevölkerung und sammeln dadurch nicht nur Erkenntnisse über die Ausbreitung des Virus, sondern auch über die Auswirkungen in verschiedenen Teilen der Bevölkerung. Das halte ich für viel intelligenter und präziser. Das isländische System basiert auf Daten und Statistik statt auf Populismus.
Abschließend ist mir noch wichtig zu sagen, dass ich nicht alle Lösungen kenne, aber glaube, dass es wichtig ist, auf Basis von Daten und mit verschiedenen Perspektiven zu arbeiten.
BM: Mir macht das Mut für meine Arbeit zu agilen Denk- und Arbeitsweisen in Unternehmen. Diese basieren ja gerade darauf, neue Perspektiven einzunehmen, Experimente zu wagen und deren Ergebnisse zu messen, bevor man weitreichende Entscheidungen trifft. So kommt man Schritt für Schritt voran.
FF: Da bin ich voll bei Ihnen. Kurze Feedbackloops statt starrer Pläne, die man „komme was wolle“ durchzieht. Aus der agilen Art zu arbeiten können wir jetzt viel lernen, davon bin ich überzeugt.
BM: Vielen lieben Dank für das Interview und dafür, dass Sie mit Ihrer neurowissenschaftlichen Perspektive unseren Blick weiter geöffnet haben!
Autorin: Dr. Britta Müller, interviewte Person: Friederike Fabritius